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Farbkartografien, von Birgit Sonna, 2002

Am Anfang ist das Pigment. Genauergesagt handelt es sich um rund 250 mit Schraubdeckeln verschlossene Gläser, in denen die bildnerischen Elementarstoffe auf ihren nächsten unvorhersehbaren Einsatz lauern. Da leuchtet hieratisch das im Mittelalter als besonders edel eingeschätzte Azurit hervor, da schwelt ein feuriges Cadmiumrot noch unangetastet in seinem Behältnis, da gibt das zumindest Laien kaum bekannte Pulver aus Phenolharzkügelchen hinter Glas nur verhohlen die eigentliche, samtige Qualität preis. Ganz zu schweigen von den nicht färbenden und schwer beschreibbaren Substanzen wie Glasmehl und Kieselsäure, mit denen Doris Hahlweg ihre Pigmentmasse auffüllt, um den Ölfarben eine porösere oder auch lichtdurch-lässigere Konsistenz zu verleihen. Auf einem mehrgeschossigen Regal ist das streng verwahrte Bataillon von Pigmenten aufgereiht. Einige Farben waren dem entlegenen Standort nach zu urteilen schon länger nicht mehr im Gebrauch, andere sind zuletzt in immer anderen, frappierenden Farbnachbarschaften verstärkt auf dem Malgrund der Aluminiumtafeln in Erscheinung getreten. Ohne die geruchsintensive und vor allem reflektive Prozedur des Anrührens, der Mixtur, des Herumtüftelns würde Doris Hahlweg wohl schwerlich den richtigen Einstieg ins Bild finden. Ihr jeweils am Beginn eines Arbeitstags im Atelier stehender malerischer Initiationsakt ist vielleicht am ehesten mit der Einstimmung eines Orchesters vergleichbar. Dabei hat sie so gar nichts von dem gegenwärtig im Milieu der zeit-genössischen Malerei weit verbreiteten Habitus eines esoterischen Alchemistendaseins an sich. Nüchtern wie in einem Forschungslabor registriert Doris Hahlweg vielmehr die im Detail so schwer voraussehbare Reaktion der Farben, ihre vermeintliche Kompatibilität oder auch plötzliche Mesalliance.

„Ich habe vorab keinen festen Plan“, sagt sie. „Im Laufe des Malens sehe ich erst, wie sich die Farbaufträge zueinander verhalten." Malerei als schwer kalkulierbarer Versuch und nie ab-geschlossener Erfahrungsprozess. Sollte sich eine koloristische Verbindung unversehens als dissonant erweisen, so ist das durchaus im Sinne von Doris Hahlwegs Konzept. Allzu harmonisch organisierte Bildpartituren sind ihr eher ein Dorn im Auge. Stellte sich eines Tages der Eindruck des „nur“ Schönen ein, so würde sie dies sicher wieder ihrer Malerei gewaltsam auszutreiben versuchen. Wenn Hahlwegs Bilder allen bewusst eingerichteten Widerständen zum Trotz einen wunderbar rhythmischen Farbklang entfalten, dann beweist das nur, wie wenig heute eine als sinnig erachtete Polychromie auf tradierten Schönheitsnormen beruhen kann. In dem Unwägbaren des malerischen Produktionsverlaufs lässt sich zumindest der Keim einer Wahrheit erahnen. Schließlich steht hinter Doris Hahlwegs Versuchsanordnungen der eminente Wunsch, dem Wirklichen substantiell näher zu kommen.

Malen als analytischer Prozess

Ungeachtet des jeweils einmaligen bildnerischen Experiments sind in Doris Hahlwegs Malerei dennoch gewisse auf Farbakkorden beruhende Analogien auszumachen. So kann man einige Bilder zu wenn auch vage voneinander abgegrenzten Werkgruppen zusammenfassen. Da sind etwa in einer Reihe von horizontal ausgerichteten, dreizonigen Arbeiten rudimentäre Anklänge an Landschaftspanoramen zu erkennen. Da geben andererseits großflächig mit deckenden Tönen bemalte Bildflächen lediglich in Sichtfenstern den Durchblick auf ein fast ätherisches Farbgewebe frei. Dann wiederum laufen quer zur Ausrichtung der Farbfelder parallele Rinnsale oder auch Streifen wie merkwürdige Bildstörungen durch die Tableaus. Und neuerdings spielt Hahlweg in einem kleinformatig angelegten Zyklus bis dato eher verschmähte Hell-Dunkel-Kontraste mit nie gesehenen Farbpolaritäten aus:

Wer hätte es denn in der Malerei jemals gewagt, eine wie furniert wirkende Flächenmasserung durch einen verwackelten orangen Leucht-Saum von einem geometrischen Massiv in Tiefschwarz abzugrenzen? Verwandtschaften zwischen Bildkomplexen ergeben sich auch zwangsläufig dadurch, dass Doris Hahlweg parallel mitunter bis an die zwanzig Tableaus in ihrem Atelier bearbeitet. Das Schichtwerk will in seinen lasierenden Lagen und blickdichten Partien, in seiner mal mehr grobkörnigen, mal mehr transparenten Materialität etappenweise immer neu beherrscht sein.

Mit ihren im doppelten Wortsinn durchsichtigen Bildern scheint Doris Hahlweg nun mehr im ideellen Zentrum einer denkbar unprätentiösen,um nicht zu sagen „herben“ Malerei angekommen zu sein. Ihre Bilder versuchen erst gar nicht ein metaphysisches oder subjektives Geheimnis vorzugeben. Sie wollen de facto nicht mehr darstellen, als sie materiell zum Vorschein bringen: Fluktuierend in Bewegung versetzte Farbformen, die das von den außergewöhnlichen Konstellationen irritierte Auge förmlich zum Herumvagabundieren verleiten.

Versucht man ein Bild von Doris Hahlweg zur Gänze in seinen mikro-und makrokosmischen Farbverläufen zu beschreiben, so stößt man unweigerlich an die Grenzen des Verbalisierbaren. Etwas Vorsprachliches scheint ihren Malerei-Korpus auszuzeichnen.

Sie entwickelt aus der puristischen Substanz der Farbe ein in sich kohärentes System, das Wahrnehmungsmuster frei von symbolischenVerweisen zu spiegeln scheint. Wenn an dieser Stelle dennoch der Versuch einer zugegeben vagen Bildskizzierung unternommen wird, dann um vor allem die Choreographie der sich sieben- bis achtfach überlagernden Farbwege zumindest exemplarisch zu erläutern. Es geht dabei um ein 2001 entstandenes Gemälde, das allein schon wegen seines extremen Breitwandformats ins Augefällt: Intensivfarbige Bänder finden sich in dem scheinbar von der Vogelperspektive aus gezeigten Ausschnitteines Flechtwerksnachlässig verwoben. Zuoberst ein sonnig-luzides Gelb, dessen horizontale Fährten von mit weiß aufgemischten Rottönen über-oder unterboten werden. Hier und da scheint–respektivebricht–das Fundament einer grünlichen Tongebung durch. Irregularitäten beherrschen das ohnehin ellipsenhafte Netzwerk.

So ist in der oberen Bildecke ein fremdartiges Flächen-bildsegment eingeblendet und blockiert brüsk den Blick. Links gegenüber hat sich ein scheinbar fehlerhafter, weil kurviger, Bänderverlauf ins Gewebe eingeschlichen. Gerade das Widersinnige, die Regelverstöße innerhalb des ohnehin bereits leicht aus den Fugen geratenen Systems entsprechen einer quasirealistischen Phänomenologie. Doris Hahlwegs Farbkartographien zeugen mit ihren schichtweisen und für das bloße Auge in ihrer Dichte nicht völlig wahrnehmbaren Ablagerungen von der bizarren Wegeführung des Lebens. An markanten Knotenpunkten überkreuzen und unterminieren sich bezeichnenderweise die Lebensspuren, um schließlich in ein Niemandsland aus lasierenden Ölschichten zu münden oder an eine brüske Territoriumsgrenze zu stoßen.

Nicht von ungefähr erinnern Doris Hahlwegs Bildstrukturen entfernt an die unberechenbaren urbanistischen Veränderungen einer Megastadt wie Tokyo, wo ein Gebäude konstrukt un-vermittelt über Nacht aus der Topographie eines Viertels verschwinden kann und nur noch spärliche Fundamentrelikte dessen vormalige Existenz bescheinigen.

Einen goldenen Mittelweg gibt es in ihrer Malerei nicht. Zufall ist für Doris Hahlweg ein tragender Begriff, das beständige Element der Arbeit. Vom Material her bereit sein, sich zu öffnen, sagt sie. Ohne Geduld funktioniert das nicht. Geduldig sein bedeutet auch, die Ungeduld auszuhalten. Zufall ist, was dir zufällt. Das Leben ist vielleicht mehr das Produkt von Zufällen als von Entscheidungen. Die Kunst mit Sicherheit nicht. Die Bilder, obwohl die Überraschung zum Werden gehört, dürfen nicht von Zufällen bestimmt sein. Das gelungene Bild ist immer zur Entscheidung getrieben worden.

Architektonische Maximen

Auch wenn derlei Assoziationen an die Gegenstandswelt letztlich ein gutes Stück Phantom-deuterei bleiben, so kann man doch nicht von der Hand weisen, dass Hahlwegs Malerei nach architektonischen Maximen aufgebaut ist. Schon deshalb nicht, weil malerische Illusionismen so weit wie möglich vermieden werden. Allerorten versperren opake Raumblockaden auf vorderster Front die Einsicht in die unteren Malebenen. Wenn sporadisch doch eine Art Tiefenräumlichkeit erzeugt wird, dann geschieht das allein aus der nicht gänzlich kontrollier-baren Eigendynamik der Farbe. Das rhythmische Gefüge der Malerei scheint dabei wesentlich von den sehr variabel ausfallenden Bildformaten bestimmt zu sein. Doris Hahlweg geht mit ihren Farbbewegungsflächen hart bis an die äußerste Bildkante, droht sie in unserer Vorstellung sogar zu überschreiten und bezieht dadurch vergleichbar den amerikanischen Protagonisten der Colourfield-Painting un-weigerlich den architektonischen Umraum mit in die Gestaltung ein.

Sichtlich wird das vor allem bei den kleinen Tafeln, die im Falle einer Idealhängung in irregulären und lockeren Abständen die ganze Wand besetzen. Doris Hahlweg findet zu einer den architektonischen Maßstäben gemäßen Konfiguration, wenn sie Ensembles mit akzenthaften Querverweisen und Leerzeichen installiert. Gerade den Leerstellen kommt eine nicht unwesentliche Bedeutung bei der Strukturierung der Bildsignale zu.

Es ist, als wollte Doris Hahlweg mit ihrer Malerei der Auslassungen den überfälligen Beweis von Derridas poststrukturalistischen Thesen in dem 1967 erschienenen Buch „L'écriture et la différence“ antreten. Das Ungesagte, Verborgene, die Leerzeichen im (Bild-)Vokabular haben Derrida zufolge einen Stellenwert, der dem Repräsentierten und de facto zur Sprache Gebrachten gleichwertig ist.

„Ich beschränke die Mittel so stark, bis ich fast nicht mehr weiterkomme“, sagt Doris Hahlweg. So verweigert sie sich nachhaltig sowohl dem Oberflächenkult als auch einer sinnlichen Stofflichkeit. Mit gutem Grund sind ihre Bildträger aus Aluminium, verhindert die harte Metallfläche doch a priori, dass eine bloß suggestive Materialität entsteht. Doris Hahlweg sucht malerisch zu vergegenwärtigen, wie ausdifferenziert die Wahrnehmung der in steter Veränderung begriffenen Außenwelt sein kann, sofern man ein hohes Sensorium dafür entwickelt.

Sichtlich wird das vor allem bei den kleinen Tafeln, die im Falle einer Idealhängung in irregulären und lockeren Abständen die ganze Wand besetzen. Doris Hahlweg findet zu einer den architektonischen Maßstäben gemäßen Konfiguration, wenn sie Ensembles mit akzenthaften Querverweisen und Leerzeichen installiert. Gerade den Leerstellen kommt eine nicht unwesentliche Bedeutung bei der Strukturierung der Bildsignale zu.

Wenn sie mit ihren radikal von allen Aha-Effekten gereinigtenVersuchsanordnungen ein Stück Wirklichkeit einfangen will, dann nicht zuletzt, um den Werbemechanismen öffentlicher Bilder entgegenzuwirken, von dem unser Sehen manipulativ mitgesteuert wird.

Kaum dass Doris Hahlweg aus dem Wahrnehmungsprozess eine Farbstruktur gelöst hat, wird auch schon der nächste Filterprozess provoziert. Kontrapunktisch entwirft Hahlweg ein irreguläres, aber streng durchorganisiertes farbiges Fugenwerk in Analogie zur Wirklichkeit. „Vielleicht ist es unser kollektives Gedächtnis, das uns dazu zwingt, Gegenbilder zur Alltagsästhetik zu entwerfen“, sagt Doris Hahlweg. Wer wollte ihr da widersprechen. „Orte werden als Bilder gespeichert und erhalten dabei einen neuen Ort in unserem körperlichen Gedächtnis, wie es die alten Philosophen nannten“ schrieb der Kunsttheoretiker Hans Belting einmal zum „Ort der Bilder“.

Das kollektive Gedächtnis aber gehöre „untrennbar zur individuellen Identität und macht aus dem Individuum ein Mitglied seiner eigenen Kultur, das aus deren Archiv seine Bilder abruft.“

In diesem Sinne entwirft Doris Hahlweg Licht-Farb-Zeit-Partituren, in denen nicht nur die im dynamischen Sehen erfahrenen Orte eingeschrieben sind, sondern auch das überlebenswichtige Substrat einer kollektiven Erinnerung malerisch aufscheint.

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